Das große Bedauern

Das Bild zeigt eine Frau mit Brille und den Satz Das große Bedauern.


Das große Bedauern

Das große Bedauern.

Manchmal kommt es wie aus dem Nichts. Gerade war noch alles gut und jetzt spüre ich die vertraute Last, die sich auf meine Seele legt. 

Was hat es diesmal ausgelöst?
Ein bestimmter Geruch? Ein Bild? Eine Musik?


Heute ist es eine Erinnerung beim Kartoffelschälen. Wie eine graue Masse nimmt sie Besitz von mir. Der Körper fühlt sich plötzlich schwer an. Ich kann nicht ausweichen. Viel zu oft schon habe ich mich „weggefühlt“ oder abgelenkt, jetzt kommt das Erinnern mit Wucht! Mein Blick – von zurückgehaltenen Tränen müde – richtet sich wie von selbst zurück in die Vergangenheit…

Als das Kind noch klein war und so gerne helfen wollte. Ich war müde und zu ungeduldig, es die Kartoffeln schneiden zu lassen. Hätte einfach zu lange gedauert. Schließlich war die Mittagspause zeitlich begrenzt. Und ich hatte Hunger.

Alles verständlich. Jedoch im Nachhinein betrachtet, wird mir klar, was ich alles hätte besser oder zumindest anders machen können. Damals, vor vielen Jahren. Warum habe ich das Kind nicht wenigstens einen Teil der Kartoffeln schneiden lassen? Wir hätten es zusammen tun können. Friedlich. Hätten. Die Worte brennen wie Feuer in meinem Inneren. Der Tränenstrom nimmt Fahrt auf. Die Erinnerung setzt sich glasklar und unbarmherzig fort…

Okay, dann fernsehen. Kinderkanal. Irgendwas kommt da immer. Es gibt Geschrei. Das Kind will HELFEN! Nicht fernsehen. Langsam reißt mir der Geduldsfaden. Warum ist das Kind heute so anstrengend? Warum kann es sich nicht mit den neuen Duplo-Figuren beschäftigen? Am Ende gibt es Streit und Tränen. Jetzt unbedingt konsequent bleiben! Völlig entnervt schicke ich das Kind ins Zimmer. Tür zu, soll es sich da drin abreagieren. Es muss lernen, sich selbst zu regulieren! Ich finde halbherzige Entschuldigungen für das eigene Verhalten. Ich koche schnell fertig, aber so richtig schmecken tut es nicht.

Heute würde ich ein Vermögen dafür geben, die Zeit zurückdrehen zu können. Tränen laufen über mein Gesicht. Kleine Kinder können sich doch noch gar nicht selbst regulieren. Heute weiß ich das. Warum wusste ich das damals nicht? Es tut mir so leid! Meine Hände zittern. Das Schälmesser habe ich beiseitegelegt. Diesmal eilt es nicht. Heute habe ich alle Zeit der Welt.

Die Szene ist Platzhalter für unzählige Möglichkeiten, in der eigenen Wahrnehmung mit den Kindern etwas „falsch gemacht“ zu haben.

Bei mir ist es so, dass, wenn das große Bedauern einsetzt, mir meist wenig bis keine Begebenheiten einfallen, in denen die Nähe zu den Kindern überwogen hat. Das regelmäßige Vorlesen von Büchern beispielsweise, Alleine-Zeit mit einem Kind, gute Gespräche und entspannte Urlaubs- und Ferienzeiten… sind in solchen Momenten wie ausgelöscht. Gerade so als hätte es dies alles nicht auch gegeben.

Die Innere Bewertungspolizei ist unerbittlich. Sie führt mir in diesen Momenten lediglich meine (vermeintlichen) Defizite vor Augen. Dies war nicht richtig, das hast du falsch gemacht, jenes hat dem Kind bestimmt einen bleibenden Schaden zugefügt… und so weiter. Alles andere ist wie ausgeblendet. Nicht greifbar. Und einmal in dieses Fahrwasser geraten, spült es uns so schnell nicht wieder ans Ufer.

Warum ist das so? Ein wichtiger Aspekt dieses Zusammenspiels ist, dass wir, wenn wir in die Vergangenheit zurückblicken, immer in eine Zeit schauen, in der wir weniger entwickelt waren als wir es in der Gegenwart sind. Eigentlich ein Grund, sich zu freuen, ist dies doch ein Indikator für unser persönliches Wachstum. Bevor die Freude diesbezüglich allerdings spürbar werden kann, steht das „Erkennen“ auf dem Plan. Und Erkenntnis tut mitunter weh!

Ach, hätte ich das alles doch schon früher gewusst!

Das ist ein typischer Satz, der das Bedauern vergangener Verhaltens- und Sichtweisen gerne begleitet.

Es ist nur so, dass wir nichts vorweg nehmen können.

Die Rose am Strauch blüht im Juni, nicht schon im Februar. In der Natur gibt es unzählige Beispiele, die uns aufzeigen, dass jedes Ding seine Zeit hat. Hier stellen wir die sukzessive Entwicklung nicht infrage. Die Trauben werden nicht gleichzeitig mit den Erdbeeren reif. Warum also sind wir bei uns selbst oft so streng? Vielleicht hilft es, wenn wir uns vor Augen führen, dass unser zwanzig- oder dreißigjähriges „Ich“ bei weitem nicht die Weitsicht und das Knowhow hatten, über die wir heute verfügen. Grund genug, mitfühlend auf uns selbst zu schauen.

Zu berücksichtigen ist auch, dass die eigene persönliche Weiterentwicklung nicht isoliert von gesellschaftlichen Wachstumsschüben stattfindet. Wir unterliegen alle einer globalen Evolution. Bestimmte Erkenntnisse kommen zu ihrer jeweiligen Zeit. Und wir sind mit allen und allem verbunden.

Es macht Sinn, sich nicht zu sehr gegen die große Gefühlswelle des Bedauerns zu wehren. Oder sie irgendwie „wegzudrücken“. Es ist ratsamer, durch das Tal der Tränen hindurch zu gehen. Dann entsteht die Möglichkeit, dass sich etwas lösen kann. Der Mechanismus hinter den Momenten großen Bedauerns ist der, dass von der jeweiligen Situation etwas im Körper zurückgeblieben ist. Nach Jahren oder Jahrzehnten, genau dann, wenn es „dran“ ist, sprudelt es mit großer Kraft in unser Bewusstsein. Das Schmerzt! Darum weine, wenn es weh tut. Tränen haben heilende Kraft. Aber verliere dich nicht darin. Wenn die größte Welle vorüber ist, dann ist es gut, wenn du Wege kennst, dich wieder sanft in ein anderes Fahrwasser zu navigieren. Das können erdende Maßnahmen sein. Was tut dir gut? Was macht Freude? Das hat nichts mit Verdrängen zu tun. Eher mit Selbstfürsorge und Selbstmitgefühl.

Gerne kommen Wellen dieser Art während oder nachdem wir einige Zeit mit unseren erwachsenen Kindern verbringen oder verbracht haben. Zusammenkünfte, welcher Art auch immer, können uns triggern. Sie konfrontieren uns möglicherweise mit eigenen ungeliebten (oder gar unerträglichen) Anteilen und Gewohnheiten. Mindestens jedoch mit verdrängten „Altlasten“. Unsere Kinder bleiben ein Spiegel für uns. Das ist der Grund, warum es Eltern gibt, die – im schlimmsten Fall – den Kontakt zu ihren Kindern abbrechen.

Mehr Sinn macht es darum, einfach nur wahrzunehmen, dass ich z.B. so oft in eine gereizte Stimmung gerate, wenn ich mit der Tochter einen Kaffee trinke oder dass mir jedes Mal die Tränen kommen, nachdem ich den Sohn in seiner Studentenbude besucht habe. Wie eine innere Beobachterin wahrnehmen, was ist. Möglichst wertfrei. Es passiert etwas. Und das soll genau zum jetzigen Zeitpunkt passieren dürfen. Ich muss es nicht erklären, nur spüren. Aufrichtig spüren. Und den Prozessen vertrauen. Dann können sich die Knoten irgendwann nachhaltig (auf-)lösen.

Wenn wir aufrichtig bereit sind, durch diese schmerzhaften Prozesse zu gehen, verändert sich ganz allmählich die Beziehung zu den erwachsenen Kindern. Das geschieht zunächst unmerklich. Und wiederum plötzlich klärt sich dein Blick und du bist berührt davon, wie wunderbar die Kinder sich entwickelt haben. Du stellst – mit tiefer Freude – fest, dass der Sohn ein wunderbarer Papa für sein eigenes Kind geworden ist. Dass er dich manchmal um Rat fragt, erfüllt dich mit Glücksgefühlen. Und wenn du dich fragst, woher er die Liebe nimmt, mit der er seinem Kind begegnet, dann darfst du getrost davon ausgehen, dass deine Liebe zu ihm stärker war als die Streitereien, die es gab. Wie eine unerschütterliche Basis war sie durch alle guten und schweren Zeiten ein starkes Fundament. Und sie ist es noch! Denn die Liebe ist und bleibt die stärkste Kraft.

Ich wünsche dir Geduld für dich selbst, wenn das große Bedauern einsetzt. Gehe mutig voran. Du wirst mit einem hohen Maß an Liebe belohnt…

Herzliche Grüße,

Deine Daniela

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