Kontaktabbrüche

Auf dem Bild befindet sich eine Frau mit Brille und der Begriff Kontaktabbrüche.


Kontaktabbrüche

Kontaktabbrüche.

Was für ein heikles Thema!

Jugendliche oder erwachsen gewordene Kinder brechen den Kontakt zu ihren Eltern oder zu einem Elternteil ab.
Manchmal ist es auch umgekehrt. Dann brechen Elternteile den Kontakt zu ihren erwachsen gewordenen Kindern ab.
Geschiedene Eltern brechen den Kontakt zueinander ab.
Geschwister brechen den Kontakt zueinander ab.
Und so weiter…


Vor wenigen Tagen stieß ich bei Instagram auf den Post einer jungen Frau, die von sich schrieb, dass sie den Kontakt zu ihrer Mutter abgebrochen hätte. Ich bin in diesen Post nicht allzu tief eingetaucht, musste jedoch feststellen, dass er in den Kommentaren sehr kontrovers diskutiert wurde.
Auch in meiner therapeutischen Arbeit in der Familienhilfe wurde ich in einigen Familien mit innerfamiliären Kontaktabbrüchen konfrontiert.

Und so ist es an der Zeit, dass ich mich dem Thema einmal etwas intensiver widme. Gerade wenn wir älter werden, macht es meines Erachtens Sinn, einmal zu überprüfen, ob es abgebrochene Familienbande in der eigenen Sippe gibt. Und wenn ja, fühlt es sich immer noch richtig an?

Werfe ich einen Blick auf meine Herkunftsfamilie, so finde ich dort alle Variationen von Abbrüchen, die ich oben aufgezählt habe.

Meine Mutter hat sukzessive den Kontakt zu ihrem Vater, später zu ihrer Mutter und zu zwei Schwestern abgebrochen. Nachdem sie sich von meinem Vater getrennt hatte, wurde auch dieser Kontakt abrupt beendet. Über dreißig Jahre Ehe fühlten sich für sie wie ein schwerer Fehler an. Als meine Mutter starb, lebte ihre jüngste Schwester noch. Eine Zusammenführung der Beiden hatte es nicht mehr gegeben.

In der Familie meines Vaters gab es trotz einiger Kontroversen zwischen ihm und seinen Geschwistern keine Kontaktabbrüche. Die Bindung zwischen den Geschwistern und auch zu den Eltern war stark genug, um die Kontroversen auszuhalten.

Zwei meiner Schwestern müssen damit leben, dass einige ihrer Kinder den Kontakt zu ihnen abgebrochen haben.

Als ich vor etwa zehn Jahren am absoluten Tiefpunkt meiner Lebenskrise stand, war der Gedanke an meine Mutter der schlimmste Trigger. Sie lebte, damals 85-jährig, alleine in ihrer Wohnung. Bereits der Gedanke, sie zu besuchen, löste eine Kaskade an schwer zu bewältigenden Emotionen und Missempfindungen aus. Ich war vollkommen überfordert. Die Versuchung, den Kontakt, der sich in der Vergangenheit über viele Jahre als schwierig gestaltet hatte, endgültig abzubrechen, war groß.

Warum habe ich es trotzdem nicht gemacht?

Anteile in mir, die in einem Zustand kindlicher Unreife hängen geblieben waren, meldeten sich vor jedem Kontakt zu meiner Mutter in Form von Handlungsblockaden, Schwäche, Panikattacken und anderen beklemmenden Zuständen. Im Grunde ein unerträglicher Zustand.

So stellte ich mir die Frage: Was konnte meine Mutter mir jetzt noch tun? Ich war eine erwachsene Frau Ende vierzig. Sie war schon einige Zeit nicht mehr in der Lage, eigenständig zu uns zu kommen. Dieser Umstand gab mir die Möglichkeit, zu entscheiden, wie oft und wann ich sie besuchen würde. Und so regelte ich die Besuchsfrequenz auf ein Minimum runter.
In diesen Jahren besuchte ich sie nicht öfter als drei bis viermal im Jahr. Ich bereitete mich innerlich auf diese Besuche vor.
Als die Pflegebedürftigkeit meiner Mutter zunahm, war es für einen Teil meiner Geschwister schwierig zu akzeptieren, dass ich nur in sehr bescheidenem Maße bereit war, mich um sie zu kümmern. Die Stimmung war zeitweise eisig. Lebte ich doch etwa fünfzehn Minuten Fahrradstrecke von ihr entfernt. Da herrschte ein gewisser Erwartungsdruck. Inzwischen hatte ich jedoch Fortschritte darin gemacht, meine eigenen Grenzen deutlicher wahrzunehmen, zu kommunizieren und entsprechend zu handeln. Ich traf die meisten Entscheidungen „mirzuliebe“ und nicht „ihr- oder ihnenzuliebe“. Über die ganze Zeit blieb ein (z.T. dünner) Beziehungsfaden zu allen Beteiligten bestehen.

Und das war gut so.

Als meine Mutter nach einem Sturz mit 89 Jahren zunächst ins Krankenhaus und anschließend in ein Seniorenheim kam, empfand ich diesen Schritt als große Entlastung. Gab es nun Menschen außerhalb der Familie, die sich um ihre Grundbedürfnisse kümmerten. Von nun an konnte jeder von uns selbst entscheiden, wie oft er/sie sie besuchen würde.

Drei Jahre lebte meine Mutter im Heim bevor sie mit 92 Jahren verstarb. Ich besuchte sie in diesen Jahren regelmäßig ein bis zweimal im Monat. Ich erwartete nichts von diesen Besuchen. Sie wurde im Alter milder und immer häufiger sprach sie sehr freundlich zu mir.

Was für ein Geschenk! Als ich sie zum letzten Mal besuchte, hatte der Sterbeprozess bereits eingesetzt. Sie mochte nicht mehr angefasst werden, empfand Berührungen als unangenehm auf der Haut. Lediglich ihre Hand durfte ich halten. Immer wieder der Satz: „Ich kann nicht mehr!“.
Sie schaute mich an und sah gequält aus. Unsere letzten Worte miteinander waren:

„Ich kann nicht mehr.“

Es dauert nicht mehr lange. Bald ist Frieden.“

„Ja? Ist bald Frieden?“

Ja. Bald ist Frieden.

Vier Tage später starb sie.

Gut, dass ich den Kontakt nicht abgebrochen hatte!

Natürlich stellte ich mir zwischendurch immer wieder die Frage, ob ein kompletter Abbruch des Kontaktes sinnvoller wäre als das „Herumeiern“, welches sich über lange Zeit anfühlte wie „Nichts Halbes und nichts Ganzes“. Jeder Besuch bei ihr ein Volltrigger. Danach ging manchmal tagelang nichts.

Es ist so unerträglich! Manchmal dreht uns ein Besuch bei der entsprechenden Person regelrecht auf links. Da erkennt man sich nachher selbst nicht wieder. Wie soll man auf Dauer mit sowas klar kommen?

Ich behaupte trotzdem, dass ein vollständiger Abbruch dieser Kontakte uns häufig mehr Schaden zufügt als er nützt. Wir werden in gewisser Weise unfrei. Schließlich gilt es ja, fortan den Kontakt aktiv zu vermeiden. Das konkrete Vermeiden bestimmter Kontakte erfordert oft mehr Aufmerksamkeit als eine reduzierte Besuchsregelung.

Gibt es eine „nächste Generation“, besteht meines Erachtens ein Recht der Kinder oder Enkelkinder mindestens auf ein Kennenlernen des Eltern- oder Großelternteils. Ich selbst habe meinen Großvater mütterlicherseits nie kennengelernt. Das fand ich schon als Kind sehr ungerecht. Zumal er in der gleichen Stadt lebte wie ich. Hat er mich vielleicht gekannt? Wusste er, wer ich war? Der einzige Kommentar meiner Mutter zu ihrem Vermeidungsverhalten lautete: „Er war ein Nazi!“. Das interessierte mich mit 8 Jahren wenig. Ich wollte ihn gerne kennenlernen. Mir mein eigenes Bild machen. Ich hatte ein Recht dazu. Fand ich. Schließlich war er mein Opa. Zu einem Treffen ist es jedoch nie gekommen.

Eine zentrale Frage, die wir uns natürlich stellen müssen, ist, ob in der Jetzt-Zeit eine Gefahr für Leib und Leben besteht, wenn wir mit bestimmten Personen in einen Präsenz- Kontakt gehen. In einem solchen Fall ist es wohl selbstverständlich, dass wir weder uns selbst, noch andere solchen Begegnungen aussetzen. Bei Kindern ist darauf zu achten, dass sowohl körperliche als auch psychische Gewalt ausgeschlossen werden kann. Im Zweifelsfall gibt es die Möglichkeit der begleiteten Kontakte.

Aber nun zurück zu den Erwachsenen: Triggern Kontakte lediglich, halte ich es für besser, die Besuche auf ein Minimum zu reduzieren, sie jedoch nicht komplett abzubrechen.

Gerade wenn es der Kontakt zu einem oder beiden Elternteilen ist, sind die Trigger gleichzeitig unsere große Wachstumsmöglichkeit. Das gilt auch für den Kontakt zu den eigenen Kindern.

Was passiert genau, wenn uns etwas triggert? Wir werden mit unserer (früheren) Hilflosigkeit konfrontiert. Wir waren irgendwann einmal komplett ausgeliefert. Bei vielen gab es Gewalterfahrungen. Ich behaupte, dass niemand einen Kontakt „mal eben“ abbricht. Unser Körper hat die Situationen der Hilflosigkeit tief in sich gespeichert. Er ruft sie genau dann auf den Plan, wenn er durch eine Stimme, einen Geruch, ein Wort oder irgendwas anderes an diese Situation(en) erinnert wird. Wir sind traumatisiert. Gerade Menschen aus der engsten Verwandtschaft wissen, welchen Knopf sie drücken müssen, um uns aus der Fassung zu bringen. Manchmal geschieht dies sogar ohne böse Absicht.
Etwas in uns konnte sich nicht fertig entwickeln, konnte sozusagen nicht erwachsen werden.

Das ist der Grund, warum uns diese Kontakte auch mit über vierzig Jahren immer noch hilflos fühlen lassen. Dabei vergessen wir, dass wir NICHT mehr hilflos sind. Das ist fatal. Denn wenn wir die nicht entwickelten Anteile nachreifen lassen möchten, müssen wir uns diesen Triggern stellen. Das ist tatsächlich oft wie ein Tanz auf rohen Eiern. Immer wieder gilt es, ein Gleichgewicht zwischen Nähe und Distanz herauszufinden. Manchmal brauchen wir andere Menschen, die uns in Phasen der Annäherung begleiten.

Wenn ich mich ein wenig mit karmischen Zusammenhängen beschäftige, weiß ich, dass ich nicht zufällig in genau dieser Familie gelandet bin. Ich bekomme in diesem Leben exakt diejenigen Menschen zugewiesen und die Aufgaben gestellt, die mir die Möglichkeit bieten, aus dem ganzen karmischen Kreislauf herauszuwachsen. Mich quasi herauszuSPÜREN.

Heute bin ich erwachsen und habe die Wahl, mich komplett von bestimmten Menschen zurückzuziehen oder den Kontakt in einem für mich erträglichen Maße zu dosieren. Einen Komplettrückzug sehe ich insofern nicht als zielführend, weil er eben nicht zu dem Ziel führt, welches ich anstrebe. Nämlich die in mir abgespeicherten unterdrückten Anteile zu befreien und auf diese Weise von den Menschen, die sie verursacht haben, unabhängig zu werden.

Was kann ich also stattdessen tun?

  • Als erwachsene Frau kann ich bestimmen, wie ich Besuche oder Treffen mit den entsprechenden Personen gestalte.
  • Ich kann kommunizieren, dass ich den Kontakt eine Zeitlang nicht möchte, weil er mir nicht gut tut.
  • Ich kann andere Personen bitten, mich in bestimmte Kontakte zu begleiten.
  • Es macht Sinn, die eigene Körperverbindung zu stärken und zu festigen. Wenn ich gelernt habe, mich in Kontakten zu spüren und präsent zu bleiben, erkenne ich jederzeit, wann es genug ist.
  • Ich kann jederzeit gehen, wenn es reicht.

Treffen mit „schwierigen“ Familienmitgliedern konfrontieren mich mit Anteilen in mir, von denen ich eigentlich nicht möchte, dass ich sie überhaupt in mir trage.

Vielleicht fühle ich (schwer zu kontrollierende) Wut. Oder Scham. Möglicherweise fühle ich mich schuldig. Ein Teil der Heilung besteht also auch darin, mit diesen Anteilen friedlicher zu werden, sie als einen Teil von mir anzuerkennen. Nur dann besteht überhaupt eine Chance, von ihnen nachhaltig frei zu werden. Vermeidung bewirkt das Gegenteil. Dann rumoren sie in uns. Sie schlummern und überdauern im Körper wie in einem Käfig, was zu unterschiedlichsten Beschwerden führen kann.

Dieser komplette Blogartikel beschreibt die Perspektive des aktiven Entscheidungsträgers, einen Kontakt abzubrechen oder nicht. Natürlich gibt es auch die Seite derer, die auf diese Weise zurückgelassen werden. Menschen, die vielleicht keine Chance mehr auf Klärung früherer Konflikte haben. Auch für dieses Phänomen gibt es Lösungen, die unabhängig von den Menschen, die weggehen, funktionieren können. Das zu beschreiben wäre an dieser Stelle zu viel.
Möglicherweise beschreibe ich in einem späteren Artikel auch die Sicht der Verlassenen einmal etwas ausführlicher. Ich halte es mir offen.

Ich wünsche dir die Kraft und den Mut, die es braucht, um verantwortlich deine Herkunfts- Kontakte zu pflegen. Du kannst daran wachsen.
Alles Liebe für dich,

Deine Daniela

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